Herausforderung, Aufgabe und Zusage – reformation 2.0

Kanzelrede in der Bonner Kreuzkirche am 9.Juli 2017

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gemeindeglieder und liebe Gäste!

Reformation 2.0 – eine neue Reformation? Ja, das ist meine feste Überzeugung: Wir brauchen in unserer Kirche dringend eine grundlegende Veränderung. Wir brauchen sie trotz der vergangenen zehn Jahre Reformationsgedenkens, trotz der zahlreichen Events dieses Jahres, trotz des Kirchentags, der hinter uns liegt! Wir brauchen sie, obwohl wir davon sprechen, dass unsere Kirche eine ecclesia semper reformanda, eine sich ständig reformierende ist.

Warum?

Ich will Ihnen das in drei Stationen zu beantworten versuchen.

Die erste Station: Die Herausforderungen

Die erste Herausforderung ergibt sich aus dem Vergleich zwischen den Situationen von 1517 und von heute. Damals war Gott für fast alle Menschen eine unbestrittene und unbestreitbare Realität. Er wurde personal gedacht als ein reales, lebendiges und zu fürchtendes Gegenüber. Das Leben der Menschen fand unter den Augen Gottes statt. Er lenkte die Welt und entschied über alles, was dem Einzelnen begegnete. Ihm gegenüber hatte man sein Tun zu verantworten; er strafte Verfehlungen sowohl während der Lebenszeit als auch beim Jüngsten Gericht in der Ewigkeit. Die zentrale Frage, die Martin Luther umtrieb, lautete: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Wir kennen seine zentrale Erkenntnis: Vor Gott können wir uns nicht durch gute Werke rechtfertigen. Allein durch seine Zuwendung, sola gratia, nur aus Gnade, sind wir bei Gott angenommen.

Und wie sieht es heute aus?

Der Mensch hat die Verantwortung für die Welt selbst übernommen. Fast alles erscheint machbar, vieles Denkbare und vielleicht auch manches Undenkbare wird bereits angewendet. Die Vernichtung fast alles Lebens, für die Gott noch eine Sintflut bemühen musste, können wir heute durch einen Knopfdruck innerhalb kürzester Frist ins Werk setzen. Schon sind wir dabei, an unserem eigenen Bauplan zu basteln. Die Verheißung der Schlange in der Paradiesgeschichte (Gen. 3,5) „Ihr werdet sein wie Gott“ ist in viel höherem Maße wahr geworden, als wir noch vor Jahrzehnten ahnten. Gilt dies auch für die Fortsetzung: „Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist“? Jedenfalls veranlasst uns dieses Wissen nicht, das Böse zu meiden, im Gegenteil: Die jüngste Geschichte lehrt, dass Menschen schlimme Verhaltensweisen aufgreifen, die wir aus dem finstersten Mittelalter kennen und längst endgültig überwunden glaubten.

Gott ist heute für die meisten allenfalls noch ein mögliches Denkmodell. Gottesfurcht ist ersetzt durch Angst, durch ein diffuses Gefühl drohenden Unheils. Gott erwies sich als ohnmächtig oder als nicht gewillt, unvorstellbares Leid und unvorstellbare Verbrechen zu verhindern. Die heutige Angst bezieht sich auf das, was Menschen einander antun und auf die Konsequenzen dessen, was die Menschheit unserer Umwelt an Schaden zufügt. Unverändert stellt sich auch heute die Frage nach dem Sinn des Lebens. Es liegt nahe, darauf zu antworten „Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot!“ (1. Kor. 15,32).

Religiosität ist dennoch nicht verschwunden. In der Themenwoche des Fernsehens zum Glauben waren in einer Diskussion zwei Journalistinnen zu hören. Sie waren evangelisch getauft, konfirmiert, hatten fast Theologie studiert, gehören aber heute selbstverständlich - nicht mehr zu einer Kirche. Doch „etwas Yoga, etwas Meditation“ sind auch heute noch Bestandteile ihres Lebens. In den Sendungen, die ich angesehen habe, kamen viele Kirchenkritiker und Distanzierte zu Wort, auch zwei Pfarrerinnen, jedoch kein einziges Laienmitglied einer Gemeinde. War das im Drehbuch nicht vorgesehen oder fand sich niemand bereit, von seinem Glauben öffentlich Zeugnis abzulegen?

Wir müssen akzeptieren: Der größte Teil der Menschen in unserem Land braucht Gott nicht. Das ist auch eine Folge des Wohlstands. Von Kurt Tucholsky stammt der Spruch: „Der Mensch hat zwei Beine und zwei Überzeugungen: eine, wenn’s ihm gut geht und eine, wenn’s ihm schlecht geht. Die letzte heißt Religion.“ Wir leben in einer so wunderbar organisierten Welt, dass wir meinen, nicht auf Hilfe angewiesen zu sein.. Den Umgang mit Schuld und den Umgang mit dem Tod haben wir erfolgreich in eine Ecke unseres Denkens verbannt.

Die zweite Herausforderung entsteht aus der Begegnung mit Menschen, für die ihr Glaube eine zentrale, überall wahrnehmbare Rolle spielt, mit Muslimen. Sie leben nicht nur in fernen Ländern, sondern auch hier bei uns, in unmittelbarer Nachbarschaft. Wenn ein Christ bei uns den Namen Gottes und gar noch seine persönliche Frömmigkeitspraxis öffentlich im Munde führt, wirkt das auf die anderen beschränkt, frömmelnd und ein wenig peinlich. Religion ist für viele eine reine Privatsache. Zwar kann man sich als Christ zu erkennen geben, aber der Vollzug des Glaubens im täglichen Leben bleibt, sofern er überhaupt erfolgt, geheim.

Erst mit der Rede vom „christlichen Abendland“, das einige Leute meinen retten zu müssen, ist das Christliche wieder ins öffentliche Bewusstsein getreten. Doch diese Leute kennen oft nicht einmal das, was sie bewahren wollen. Ihnen geht es wohl mehr darum, den status quo nicht zu verändern.

Ich bin kein Kenner des Islam, aber einige Charakteristika dieses Glaubens scheinen mir auf der Hand zu liegen: - Der Islam kennt klare, praktische Regeln für das tägliche Leben - Es gibt eine verlässliche Einteilung der Welt in gut und böse - Die persönliche Verantwortung des einzelnen ist begrenzt; für alles außerhalb dieser Grenzen ist Allah – Gott – direkt verantwortlich - Es gibt eine konkrete Jenseitshoffnung, ohne die die vielen Selbstmordattentate nicht denkbar wären.

Warum ist die islamische Lebenspraxis für uns so herausfordernd? Sie trifft uns an einer empfindlichen Stelle: Gott ist für sie ein lebendiges, maßgebliches Gegenüber. Auch das Christentum lebt von der Jenseitshoffnung: „Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Menschen“ schreibt Paulus im 1. Brief an die Korinther. (1. Kor. 15,19) Aber geht unser Glaube tatsächlich über das hinaus, was jedem vor Augen ist? Die Begegnung mit den Muslimen halte ich nicht nur für eine Herausforderung, sondern auch für eine Chance, uns auf die Mitte unseres Glaubens zu besinnen.

Ich habe versucht, die Situation des Christentums in unserem Land angesichts der verschiedenen Herausforderungen zu umreißen. Lassen Sie mich noch ein Wort zur Kirche anfügen. Prognosen sagen eine Fortsetzung des Schrumpfungsprozesses an Mitgliedern voraus. Bereits heute sind die Christen in vielen Landesteilen eine Minderheit geworden – kein Vergleich mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als noch über 90 % der Bevölkerung einer Kirche angehörten.

Gleichzeitig sprudeln die Einnahmen. Durch ihre Kopplung an das staatliche Steuersystem nehmen die Kirchen am momentanen Geldüberschuss teil. Parallel dazu wird aber die Debatte geführt, wie man bereits jetzt durch Reduktion der Anzahl der Beschäftigten künftig zu erwartenden Dürrestrecken entsprechen kann. Ein Wirtschaftsunternehmen wird in guten Zeiten investieren, um künftige Flauten zu verhindern bzw. zu überstehen; wir nehmen die Flaute bereits vorweg, um dann nicht von ihr überrascht zu werden. Natürlich hat das seinen Grund. Die Kirchen sind integriert in ein Wirtschaftssystem, das ihnen seine Gesetze aufzwingt. Ein Teil der Mitarbeiter (die Pfarrerinnen und Pfarrer) werden in jungen Jahren mit einer lebenslangen Garantie des Arbeitsplatzes zu komfortablen finanziellen Bedingungen und mit einer ebenfalls komfortablen Altersversorgung eingestellt. So gibt es kaum Möglichkeiten späterer Anpassung, sondern nur die Chance, die vermeintlich sichere Entwicklung der nächsten vierzig Jahre schon heute in ihren Konsequenzen vorwegzunehmen.

Die Analyse ließe sich noch fortsetzen. Aber bereits das Gesagte begründet ausreichend, dass eine grundsätzliche Veränderung, eine Neuformierung unserer Kirche unerlässlich ist. Das zeigt bereits eine rein ökonomische Betrachtung; noch viel schwerer wiegende inhaltliche Argumente kommen hinzu.

Die zweite Station: Die Aufgaben

Eine Forderung nach Veränderungen wird erst dann sinnvoll, wenn man sich klar gemacht hat, in welche Richtung aufzubrechen ist.

Welche Aufgabe steht vor den christlichen Kirchen, vor unserer Kirche heute? Wer in verantwortlicher, kirchenleitender Position steht, wird davon sprechen, dass die Verkündigung des Wortes Gottes in die Breite der Gesellschaft hinein auch zukünftig gesichert wird. Sie oder er wird damit meinen, dass die Organisation der Kirche handlungsfähig bleiben, über ausreichend Geld verfügen muss, um das Gemeindeleben aufrecht zu erhalten, geistliche Betreuung bei den entscheidenden Stationen des Lebens zu realisieren und zahlreiche Aufgaben in Diakonie, Kultur und Politik wahrzunehmen.

So sehr ich die wunderbaren Kirchenbauten in unserem Land und anderswo liebe und so sehr ich mich auch in unserer Kirche beheimatet fühle, sehe ich doch die Aufgabe, die sich uns stellt, anders. Wir wollen Kirche Jesu Christi sein. Unsere erste – und einzig wichtige – Aufgabe besteht deshalb darin, selbst in der Nachfolge Jesu zu leben und dadurch allen Menschen die Lehre Jesu nahezubringen.

Daraus leite ich einige konkrete Folgerungen ab:

Die erste Aufgabe: Wir wollen uns auf den Kern der Botschaft besinnen

Noch immer gilt unsere Kirche als moralische Autorität. In ethischen Fragen und dort, wo man ehrliche Moderatoren und Vermittler braucht, greift man gern auf Menschen der Kirche zurück. Man ist dabei relativ sicher, dass sie fair und nicht egoistisch handeln. So kommt es dazu, dass die Kirche als der Anwalt „des Guten“ gesehen wird – Gott sei Dank! –, dass sich ihre Bedeutung aber in der Wahrnehmung dieser Rolle erschöpft. Ein evangelisches Gemeindeglied in Berlin begründet die Aufnahme der muslimischen Gemeinde in einen Raum seiner Kirche mit der Übereinstimmung der Ziele: „Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Frieden“. Ich möchte nicht missverstanden werden. Natürlich sind dies Ziele, die wir verfolgen. Aber sie bilden nicht den Kern der Botschaft, sondern zwingende Konsequenzen. Reduzieren wir unser Wollen auf sie, dann braucht es keine Kirche.

Die zweite Aufgabe: Wir wollen wieder mit Gott reden

Nach meiner Überzeugung sind Christen Menschen, die ihr Leben im Dialog mit Gott führen. Persönlich gesagt: Ich glaube, dass es eine Kraft gibt – wir nennen sie Gott – die in und hinter allem wirkt, was mir begegnet. Sie ist nicht nur eine abstrakte philosophische Größe, sondern mir zugewandt und hat insofern personale Züge. Ich darf sie anreden, mit ihr in Kontakt treten (das nennen wir Gebet). Vor ihr ist mein Inneres offenbar. Sie lässt mir Freiheit zur Entscheidung, aber sie hilft mir, den richtigen Weg zu finden. Im Gebet sehe ich mich selbst mit anderen Augen und erfahre sowohl Korrektur als auch Bestätigung, Trost und Ermunterung. In der Beziehung zu Gott wird mir klar, dass ich nicht ein zufälliges Produkt der Evolution bin, sondern in diese Welt gehöre, grundsätzlich liebevoll in ihr aufgenommen bin. Vor Gott habe ich dasselbe Recht wie alle anderen Geschöpfe – kein geringeres und kein größeres. Gott garantiert mir nicht ein Leben ohne Leid und Schmerzen, aber er lässt mich auch im tiefen Tal nicht allein. Vor ihm muss ich mich verantworten für alles, was ich getan und was ich unterlassen habe. Gott bleibt mir rätselhaft, ist mir manchmal nah und manchmal fern, manchmal unverständlich und verschlossen.

Ich glaube und hoffe, dass ich auch die Schuld, die zu meinem wie zum Leben eines jeden Menschen gehört, vor Gott bringen kann. Sie wird dadurch nicht ungeschehen, aber ich bleibe auch als schuldiger ein geliebter Mensch. Vergebung vor Gott und dadurch auch zwischen Menschen ist möglich und bietet noch in der verzweifeltsten Situation die Chance eines Neubeginns.

Ich bin überzeugt, dass die Fürbitte für andere Menschen etwas bewirkt. Gott ist nicht außerhalb dieser Welt, sondern begegnet mir in ihr. Dennoch eröffnet mir die Begegnung mit ihm einen Raum, der über das für mich Begreifbare und Beherrschbare weit hinausreicht.

Dass Gott uns Menschen so verständnisvoll und versöhnungsbereit gegenüber steht, wissen wir durch Jesus Christus. Wenn wir ihm nachfolgen, erfährt unser Leben seinen letzten Sinn, leben wir nach Gottes Willen.

Durch das Ostergeschehen haben Menschen unzweifelhaft erfahren, dass mit dem Tod – selbst mit der grausamen Hinrichtung am Kreuz – das Leben nicht endet. Den Jüngern und Frauen am Grabe wurde zur felsenfesten Gewissheit: Jesus lebt. Der Tod ist nicht aufgehoben, aber die Geborgenheit in Gott reicht über den Tod hinaus. Darauf hoffe ich auch im Blick auf meinen eigenen Tod.

Die dritte Aufgabe: Wir wollen neue Bilder finden

Die Bibel redet von der Wirklichkeit Gottes und von seinem Wirken in der Welt in Bildern. Sie entsprechen den Vorstellungen der Menschen zu der Zeit, in denen die Texte entstanden. Hubertus Halbfas kritisiert in seinen Schriften, dass in der kirchlichen Praxis nach wie vor eine Zweiteilung der Welt vorkomme: Über unserer irdischen Wirklichkeit gibt es eine himmlische Welt, wo sich Gott aufhält und von wo aus er in unsere Welt hineinwirkt. Diese Zweiteilung sei für den modernen Menschen nicht mehr vorstellbar. Deshalb stellt er auch das Gebet in Frage, denn es richte sich ja an Gott mit der Vorstellung, Gott könne aus der himmlischen Welt im gewünschten Sinn auf unsere irdische Realität einwirken.

Nun, ich habe seit langer Zeit keine Predigt gehört, in der ein so einfaches Bild als schlichte Wahrheit propagiert wurde. Pfarrerinnen und Pfarrer formulieren sorgfältig und unangreifbar; vermeiden aber, diejenigen Gemeindeglieder zu brüskieren oder zu verunsichern, für die jene bildlichen Vorstellungen direkte Wirklichkeit sind. Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir über viele Dinge nur in Bildern reden können. Das gilt übrigens für viele Bereiche der Mathematik und der Naturwissenschaften ebenso. Wir sollten klar sagen, dass es sich um bildliche, mythische Beschreibungen von Wirklichkeiten handelt, die sich einer anderen Darstellung entziehen. Durch eine in diesem Sinne aufrichtige Verkündigung werden Missverständnisse vermieden, die naturwissenschaftlich gebildete moderne Menschen zu schroffem Widerspruch herausfordern, wird andererseits aber gerade der Wert und die Schönheit dieser Bilder betont und gewürdigt. Dann wird auch klar, dass das Gebet nichts Überholtes ist, sondern eine zentrale Komponente des Lebens im Glauben.

Die vierte Aufgabe: Wir wollen Naturwissenschaft und Glauben nicht vermischen

Viele Jahrhunderte lang hat die Kirche mit ihrer Lehre die Gesamtheit der Welt erklärt. Dann lieferten die naturwissenschaftlichen Forschungen experimentelle Ergebnisse, die dieser Lehre widersprachen. Seitdem befindet sich Gott gewissermaßen in einem fortwährenden Rückzugsgefecht. Immer größere Bereiche der Welt werden rational erklärt, aber nur zu schnell ist man bereit, beim Treffen auf etwas bisher Unerklärbares den Begriff „Gott“ wieder einzusetzen. Es ist klar, wie es weitergeht: Neue Entdeckungen füllen auch diese Lücke, und Gott wird wieder ein Stück weiter in die Ferne geschoben.

In der Naturwissenschaft kann und darf man nur mit materialistischen Arbeitshypothesen vorgehen. Aber es gilt mit aller Entschiedenheit der Meinung entgegen zu treten, die Welt sei für uns Menschen mit der Gesamtheit der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse erschöpfend erklärt und beschrieben. Das Evangelium nötigt uns zu einem zugleich bescheidenen und anspruchsvollen Standpunkt: Im naturwissenschaftlichen Bereich können wir nichts beisteuern, aber für das Zusammenleben der Menschen und den Sinn unseres Lebens haben wir eine wichtige, die wichtigste Botschaft zu verkündigen.

Die fünfte Aufgabe: Wir wollen Sexualität, Liebe und Ehe ins rechte Verhältnis setzen und nach Bewertungen im Sinne Jesu suchen

Eine der stärksten Wandlungen der letzten 50 Jahre im allgemeinen Denken hat sich in Bezug auf die Sexualität vollzogen. Mit der Überwindung körper- und lustfeindlicher Vorstellungen namentlich im Bereich der Kirchen sind viele bis dahin geltenden Tabus gefallen. Wir haben gelernt, Homosexualität nicht mehr als Verfehlung und Sünde, sondern als eine mögliche Prägung zu begreifen, die sich nicht prinzipiell von anderen Merkmalen unserer biologischen Ausstattung unterscheidet. Mit der Preisgabe der Sexualität ging die Gefahr einher, die Liebesbeziehung zwischen Menschen auf diese Komponente zu reduzieren. Grundsätzlich hat sich das Verständnis der Ehe gewandelt. Es ist eine wichtige Aufgabe der Kirche, die entsprechenden Texte der Bibel zeitbezogen zu deuten, zu relativieren und daraus eine neue Beurteilung von Sexualität und Ehe zu gewinnen. Dabei geht es nicht um Angleichung an den Zeitgeist, sondern um eine fundierte, der neuen Situation gerecht werdende, verantwortliche Stellungnahme und dementsprechende Praxis.

Die sechste Aufgabe: Wir wollen auf Vorstellungen verzichten, die wir nicht mehr nachvollziehen können

Im Rahmen dieser Rede beschränke ich mich auf ein Beispiel. In Passionstexten und -liedern erfahre ich: Durch meine Sünden trage ich eine Mitschuld am Tod Jesu. Ich kann schlechterdings nicht akzeptieren, dass mein Verhalten in den 69 Jahren meines Lebens Mit-Ursache für ein Geschehen ist, das knapp 2000 Jahre zurückliegt. Wenn in der Matthäuspassion auf die Frage „Wer hat dich so geschlagen?“ geantwortet wird: „Ich bins, ich sollte büßen an Händen und an Füßen gebunden in der Höll. Die Geißeln und die Banden und was du ausgestanden, das hat verdienet meine Seel“, so tut sich für mich – auch als Dirigenten dieses Werkes in zahlreichen Aufführungen – ein Zwiespalt auf, über den ich nicht einfach hinweggehen kann. Was uns not tut, ist eine aufrichtige Rede vom Kreuz, die sich nicht der traditionellen christlichen Sprache mit Versatzstücken überholter Vorstellungen bedient. Dies betrifft auch die Lieder, die wir in unseren Gottesdiensten singen.

Die siebente Aufgabe: Wir wollen mutig am Bau des Reiches Gottes mitwirken und nicht der eigenen Sicherheit den Vorrang geben

Immer wieder in der Geschichte sind Menschen aufgebrochen, um in Freiheit ihren Glauben leben zu können. Sie haben dabei alle Existenzsicherung verlassen. Der Mut zu neuen Wegen verträgt sich nicht mit einer rückgewandten Absicherung. „Wer seine Hand an den Pflug legt und schaut zurück, der ist nicht geschickt zum Reich Gottes.“ (Lk. 9,62) Für uns als Kirche darf die materielle Absicherung der Organisation nicht wichtiger sein als der Auftrag, den uns Jesu Verkündigung stellt.

Die achte Aufgabe: Wir wollen froh unseren Glauben bezeugen

Mission steht heute im Verdacht, mit fragwürdigen Mitteln die Bekehrung anderer zur eigenen Religion erzwungen zu haben. Das mag vorgekommen sein, trifft aber nicht in dieser Allgemeinheit zu. Die Botschaft Jesu von der angebotenen Versöhnung mit Gott gilt jedenfalls auch heute für alle Menschen. Nach meinem Verständnis geht es darum, dass unser Leben hoffentlich transparent dafür wird, welche Freiheit und Erfüllung die Nachfolge Jesu bietet. Mission heißt, die Grundlagen unseres Lebens im Glauben nicht vor anderen zu verbergen, sondern als Christen frei und offen erkennbar zu sein, ohne Verkrampftheit, froh und zuversichtlich.

Und nun die dritte und letzte Station: die Zusage

Mit großer Sicherheit beschäftigen die eben genannten Themen die Gemeindeglieder und kirchlichen Mitarbeitenden auf allen Ebenen – bis hin zu den kirchenleitenden Gremien. Vermutlich werden viele den Reform(ations)bedarf ebenso bejahen. Doch erweist sich die Verwirklichung als schwierig, so dass am Ende eine Strategie der möglichst kleinen Veränderungen als die günstigste erscheint. Die Quittung dafür erhalten wir durch die gewaltige Schrumpfung, die der Mitgliederbestand der Kirche erfahren hat und weiter erfährt. In den neuen Bundesländern ist sie ein Erfolg massiver atheistischer Erziehung durch vierzig DDR-Jahre hindurch, aber auch in den westlichen Gebieten Deutschlands findet sie statt. Wir versuchen, der neuen Minderheitenrolle der Christen gerecht zu werden, ohne die aus volkskirchlichem Erbe überkommene Gestalt der Kirche einschneidend zu verändern.

„Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen“ – so lautet die zentrale Botschaft Jesu in den Evangelien. Die Möglichkeiten zur Gestaltung eines Lebens nach Gottes Willen sind gegeben – wir müssen sie nur ergreifen. Für mich am deutlichsten formuliert Jesus dies in den Seligpreisungen der Bergpredigt Matthäus 5:

Wenn wir uns an ihnen orientieren, folgen wir dem vierten Prinzip der Reformation: sola scriptura – allein durch die Schrift –, sola fide – allein durch Glauben –, sola gratia – allein aus Gnade –, solus Christus – allein Christus.

Christus verheißt in den gehörten Versen Seligkeit. Seligkeit ist mehr als Glück, Erfolg und Zufriedenheit. Seligkeit ist ein Begriff, der den Dialog mit Gott zur Voraussetzung hat und zugleich seine Erfüllung bezeichnet.

In den Seligpreisungen werden die üblichen Bewertungen umgekehrt. Die geistlich Armen, die Sanftmütigen, die nach Gerechtigkeit hungert und dürstet, die Barmherzigen, die reines Herzens sind, die Friedfertigen, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden – das sind nicht die Menschen, denen wir zujubeln und die wir als Idole akzeptieren. Auch die Verheißungen sind äußerlich gesehen mager: getröstet werden, satt werden, Barmherzigkeit erlangen, Gott schauen, Gottes Kinder heißen, zum Himmelreich gehören. Lediglich „das Erdreich besitzen“ erscheint materiell verlockend, aber wir wissen sofort, dass in dieser unserer Welt die Sanftmütigen niemals über die Armeen befehlen werden.

Man sagt, dass sich mit der Bergpredigt die Welt nicht regieren lasse. Das ist vermutlich richtig, denn wir leben in einer vorläufigen Welt, in der sich das Paradies nicht herstellen lässt. Diejenigen, die nach den Seligpreisungen leben, werden nie die Mehrzahl sein. Aber sie sind das Salz der Erde, sie helfen, dass Gottes Reich in unserer Welt da und dort aufscheint.
Dem Leben in der Nachfolge Christi gilt die unbedingte Verheißung Jesu. Sie ist nicht an ein abstraktes theologisches Lehrgebäude gebunden, sie ist klar und praktisch. Auf diese Verheißung zu vertrauen, das bedeutet Glauben an Jesus Christus.

Fordern wir dies nicht nur von anderen ein, sondern beginnen bei uns selbst – auch in der Form unseres Drängens nach Veränderung: sanftmütig, aufrichtig, gerecht, friedfertig, aber ohne Kompromiss in der Sache. Die dringend nötige „reformation 2.0“ wird nicht von oben, sondern durch den Glauben „von unten“ geschehen.

Dazu helfe uns Gott. Amen