Ein Fremder geblieben

Zum 70. Geburtstag von Jörg Herchet am 20. September 2013

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Am 20. September wurde der Dresdner Komponist Jörg Herchet 70 Jahre alt. In einem Festival mit fünf hochrangigen Konzerten (drei Orgelkonzerten mit Reimund Böhmig, Matthias Geuting, Gary Verkade und Lydia Weißgerber, einem Konzert mit dem elole-Klaviertrio und einem Kantatenkonzert mit der Meißner Kantorei 1961, Agnes Ponizil, Gertrud Günther und vier Schlagzeugern unter Leitung von Christfried Brödel) sowie einer Buchpräsentation erklangen in seiner Heimatstadt zahlreiche seiner Werke vor einer interessierten, erfreulich großen Zuhörerschar.

Wer ist Jörg Herchet? Selbst kulturell gebildete und interessierte Dresdner zucken mit den Achseln: Kenne ich nicht!

Daran ist er nicht unschuldig. Von Anfang an ging er den Weg, den er für den richtigen hielt, ohne Rücksicht auf verweigerte oder gezollte Anerkennung, ohne Bemühen um Medienpräsenz. In der DDR wurde ihm der Abschluss seines Kompositionsstudiums verweigert, weil er nicht bereit war, seine Examensarbeit dem gewünschten ideologischen Kurs anzupassen. Statt seine Existenz zu sichern, verzichtete er auf den Studienabschluss und eine Mitgliedschaft im Komponistenverband der DDR.

Die Qualität seiner Arbeit setzte sich dennoch durch. Er wurde Meisterschüler von Paul Dessau in der Berliner Akademie der Künste. Prominente Musiker und Ensembles – u. a. die Staatskapelle Dresden – musizierten seine Werke. Er wurde zum Dozenten für Komposition an der Dresdner Musikhochschule berufen. In der alten Bundesrepublik wurde er bald bekannter als in seiner Heimat.

Nach der friedlichen Revolution 1989 erfolgte seine Ernennung zum Professor. Doch auch unter den geänderten Verhältnissen blieb Herchet ein Außenseiter. Jeglicher Selbstdarstellung abhold, schrieb er auch weiterhin so, wie er musste, unterwarf sich nicht dem Diktat kompositorischer Trends und knüpfte keine Netze von nützlichen Beziehungen. Das ist bis heute so.

Herchet ist ein tief gläubiger Mensch. Viele seiner Kompositionen tragen die Unterschrift „Soli Deo gloria“ – allein Gott die Ehre. Er hat diese Praxis nur unterbrochen, als er Sorge hatte, diese Unterschrift werde als eine Masche zur Profilierung einer „Marke Herchet“ missverstanden. Inzwischen ist er dazu zurückgekehrt.

An prominenter Stelle seines Schaffens, neben drei Opern und zahlreichen Werken für die verschiedensten Besetzungen, stehen zwei Zyklen, die sich zentral auf christliche Inhalte beziehen. Der Orgelzyklus „NAMEN GOTTES“ soll einmal 43 Kompositionen umfassen; eine große Zahl von ihnen ist bereits vollendet. Ebenso wichtig ist der ökumenische Zyklus „DAS GEISTLICHE JAHR“ nach Texten von Jörg Milbradt, der Kantaten zu den verschiedenen Sonn- und Festtagen des Kirchenjahres enthält. Über 20 Werke liegen bereits vor. Werke aus beiden Zyklen sind auf bisher 6 CDs (Label Querstand) erschienen.

Setzten sich anfangs nur wenige Interpreten für Herchets Werke ein, so gewinnen diese jetzt an Bekanntheit. Zu Organisten wie Reimund Böhmig, Hansjürgen Scholze, Gary Verkade, Michael-Christfried Winkler und Gerd Zacher, die frühzeitig Werke von Herchet spielten, kamen in den letzten Jahren weitere hinzu. Zum 25jährigen Jubiläum des Deutschlandfunks erlebte die Orgelkomposition I, 8 eine glanzvolle Aufführung in der Kunststation St. Peter Köln (im Forum Neuer Musik des Deutschlandfunks) mit Dominik Susteck, die begeistert aufgenommen wurde. Weitere Aufführungen folgten ihr, u. a. am 17. September in Innsbruck.

Für Herchets Kantaten setzte sich von Anfang an die Meißner Kantorei 1961 ein. Ihr Leiter Christfried Brödel führte inzwischen 11 Kantaten auf, wobei auch das Ensemble vocal modern wesentlich beteiligt war. Weitere Werke des Zyklus erklangen unter Leitung von Ekkehard Klemm, Michael Sanderling (Dresdner Philharmonie), Daniel Glaus (Schweiz) und anderen. Die Uraufführung zweier Weihnachtskantaten von J. Herchet ist für kommenden Dezember in der Internationalen Bachakademie Stuttgart unter Leitung von Hans Christoph Rademann geplant.

Unsere Kirche hat viel Grund, Herchet dankbar zu sein. Doch neue Musik, wie er sie schreibt, wird von vielen abgelehnt und als „Krach“ diffamiert – meist von Leuten, die sich nie ernsthaft mit ihr beschäftigt haben. Für einen großen Teil der Kirchenmusiker gibt es nach Brahms und Reger, allenfalls Distler, nur noch die Popularmusik.

Die Spannungen sind nicht nur stilistischer Natur. Seit Jahren gehört Herchet keiner Kirche mehr an. Aus der ev.-luth. Landeskirche trat er aus, nachdem ein Pfarrer, bei dem er sich zur Beichte anmelden wollte, dies auf unbestimmte Zeit verschob mit der Begründung, er müsse dazu ein Formular mitbringen. Herchets Vorbehalte beziehen sich nur auf die menschliche Organisation Kirche, nicht auf den Glauben. Es ist schmerzlich, dass bei den Festivalkonzerten die Dresdner Kirchenmusiker bis auf wenige Ausnahmen durch Abwesenheit glänzten – von einer offiziellen Würdigung ganz zu schweigen. Aber das ist wiederum nicht verwunderlich. Bei Herchet wäre das Gegenteil erstaunlich.